Es ist soweit, unser erster Nachtschlag steht bevor und ein bisschen nervös sind wir beide. Was wird uns erwarten? Werden wir genug sehen, um möglichen Gefahren ausweichen zu können? Werden die Sterne unseren Weg erhellen? Die ganze Woche haben wir auf das richtige Wetterfenster gewartet, doch es waren entweder zu viel oder zu wenig Wind oder zu hohe Wellen angekündigt, nun prophezeit unsere App «PredictWind» konstanten Wind von Osten und Wellen bis zu zwei Meter. Es kann losgehen!
Die Fahrt von Bequia nach Martinique ist zirka 100 Seemeilen lang und wir rechnen mit ungefähr 20 Stunden Fahrt. Die Inseln St. Vincent und St. Lucia wollen wir zu Steuerbord liegen lassen ohne Anker zu werfen. St. Lucia ist zwar eine sehr schöne, aber auch eine sehr arme Insel und in den letzten Monaten hörten wir immer wieder von Überfällen auf Segelschiffe, die in Buchten von St. Lucia geankert hatten. Diesem Risiko wollen wir uns nicht aussetzen. Bei unserer Reiseplanung setzen wir uns jedoch zwei Fixpunkte: Wir wollen bei Tageslicht in Martinique ankommen und wir wollen die Pitons, zwei Vulkankegel, für die die St. Lucia berühmt ist, sehen. So planen wir, um 19 Uhr in Bequia Anker zu lichten, um bei Sonnenaufgang um 6 Uhr an den Pitons vorbei zu segeln und am Nachmittag in Martinique anzukommen.
Doch bevor wir aufbrechen, gibt’s noch eine große Schlemmerei – zumindest für mich. Während Vegetarier Alex auf Mabul bleibt, um vorzuschlafen, fahre ich mit Horst, der ebenfalls in der Admirality Bay angekommen ist, zu unseren amerikanischen Freunden Tony und Melodie. Sie hatten viele Jahre ein Chartergeschäft und segelten mit zahlenden Gästen durch die Karibik, nun jedoch arbeiten sie nicht mehr, sondern genießen das Cruiser Leben mit ihren zwei riesigen, wilden Labrador Hunden Eddie und Drake und Freunden, die ab und zu an Bord kommen. Sie haben uns zum Thanksgiving Lunch auf ihr Boot eingeladen.
Was für ein Gaumenschmaus! Tony und Melodie müssen Stunden in der Küche verbracht haben, und selbst ein kleiner Christbaum aus Plastik steht auf dem Navigationstisch, während aus den Lautsprechern Weihnachtslieder klingen. Den Truthahn haben sie in Speck gewickelt und im Ofen gegart, dazu gibt’s gefüllte Eier, Bohnen, Kartoffelstock und Schaumwein. Während wir im klimatisierten Innern des Boots schlemmen, müssen Eddie und Drake vor der Tür warten und schlabbern derweil die Scheibe voll. Nach dem Essen erzählen wir uns gegenseitig, für was wir dankbar sind – ein gängiger Thanksgiving-Brauch. «Ohne Segler gäbe es auch kein Thanksgiving», sagt Melodie. So wurde das erste Thanksgiving Fest 1541 von den spanischen Kolonialisten gefeierten, nachdem sie über den Atlantik gesegelt waren und in den USA nicht Öde, sondern Nahrungsmitteln vorgefunden hatten. Das musste gefeiert werden! Heute ist das Erntedankfest Thanksgiving einer der wichtigsten Festtage in den USA und in Kanada und wird meist mit Familie und Freunden gefeiert.
Mit viel Truthahn im Bauch fahre ich zurück zu Mabul, damit wir das Boot noch segelfertig machen können. Als wir den Anker um 19 Uhr lichten, ist die Bucht bereits stockdunkel, nur die Ankerlichter der anderen Boote, zeigen uns, wo wir durchfahren müssen. Als ich die Ankerkette hochziehe, merke ich jedoch schnell, dass sich um mehrere Abschnitte ganze Bündel von Draht gelegt haben, die am Meeresgrund dahingetrieben sein müssen. Mühsam versuchen wir sie zu durchtrennen. Wir brauchen einige Zeit, bis die Kette frei ist und wir langsam durch die Bucht an den anderen Schiffen vorbeifahren. Von «Take Five» winken uns noch Sängerin Suzi und ihr Mann Emmanuel zu, dann haben wir das letzte geankerte Schiff hinter uns gelassen und stechen in die schwarze Nacht.
Wir sind beide überrascht, wie dunkel diese Nacht ist. Es ist eine Neumond Nacht, kein Mond leuchtet uns den Weg und Anfangs verstecken sich die Sterne noch hinter einer Wolkendecke. Wir setzen das Großsegel ins zweite Reff, damit wir bei starkem Wind und Böen nicht in der Nacht an den Mast müssen, um das Reff umzusetzen. Die Nacht ist so dunkel, dass wir nicht einmal bis zur Genua sehen, als wir sie hochziehen.
Der Chartplotter und unser AIS-System sind unsere Augen für die Nacht. Auf dem Chartplotter sehen wir die Positionen der anderen Schiffe, die ein AIS-System haben, und immer wieder machen wir einen Rundumcheck, um nach Positionslichtern von anderen Schiffen Ausschau zu halten.
Nur langsam gewöhnen sich unsere Augen an die Dunkelheit und ich kann den Übergang vom Meer zum Himmel erkennen, eine fast unmerkliche Verschiebung von Schwarz zu Grau. Bald klart auch die Wolkendecke auf und wir blicken auf einen unendlichen Himmel voller Sterne. Schweigend segeln wir dahin, schauen übers schwarze Meer und in den Himmel, an dem immer mehr Sterne aufleuchten, als ob jemand sie anknipsen würde. Die ersten Sternschnuppen schießen über den Himmel und hinterlassen lange, glühende Schweife. Mabul zieht Wellen von neongrün-leuchtenden Biolumineszenzen hinter sich her, winzige Organismen, deren Organe leuchten. So segeln wir unter einem leuchtenden Sternenhimmel durch leuchtendes Wasser in die Magie der Nacht.
Eingehüllt in die Unendlichkeit des Himmels und die Stille der Nacht scheinen auch die eigenen Gedanken eine neue Leichtigkeit anzunehmen. Ich empfinde eine tiefe Stille und Zufriedenheit, als ob die Sterne dunkle Ecken in mir auf einmal zum Leuchten bringen würden. Wenn Segeln Freiheit bedeutet, dann bedeutet das Segeln in der Nacht, dass man ganz Teil wird von diesem überwältigend schönen, unendlichen, magischen Universum. Und was könnte ein größeres Glück sein?
Lange Zeit schweifen meine Gedanken einmal hier hin, mal dort hin. Ich denke über Freiheit nach, dieses große Geschenk, dass uns das Segeln beschert und was passiert, wenn Freiheit eingeschränkt wird. Die Aufstände und Proteste in China und dem Iran sind uns auch auf dem Meer nicht entgangen – das Internet macht´s möglich. Frei zu sein, der Wunsch, sich ausdrücken und seiner Natur entsprechend kreativ wirken zu können, scheint alle Menschen zu verbinden. Wer nicht nicht frei sein kann, wer eingeschränkt und klein gemacht wird, wehrt sich über kurz oder lang.
Gegen Mitternacht legt sich Alex auf das Sofa in der Kabine, um etwas zu dösen. Wir haben Bequia hinter uns gelassen und sind nun im Kanal zwischen den Inseln, wo der Wind bläst und die Wellen Mabuls Nase und somit auch unser Bett, das in der Nähe des Bugs liegt, wild auf und ab schießen lassen. Bald ist Alex eingeschlafen. Die Wache zwischen 2 und 4 Uhr wird die Friedhofs-Wache genannt und tatsächlich beginne auch ich gegen die Müdigkeit zu kämpfen. Ich versuche mich mit «Sturz der Titanen», dem ersten Hörbuch von Ken Folletts Jahrhunderttrilogie, wach zu halten, werde in den ersten Weltkrieg und einige Liebesdramen entführt, ertappe mich jedoch dabei, dass ich immer wieder auf die Uhr schaue.
Wir planen um sechs Uhr früh bei den Pitons in St. Lucia zu sein. Im Kanal zwischen St. Vincent und St. Lucia nimmt der Wind zu und bläst mit 18 bis 22 Knoten, wobei Mabul mit 8 Knoten durchs Wasser schießt. Segeln wir so weiter, sind wir bereits um fünf Uhr früh bei den Pitons und werden sie nicht sehen, deshalb rolle ich etwas Genua ein und fiere das Gross etwas aus, um die Geschwindigkeit zu drosseln. Gegen 5 Uhr erkenne ich die Umrisse der Pitons, die mir aber viel zu nah erscheinen. Stimmt meine Navigation? Oder sind wir bereits viel zu nahe an Land und ich fahre Mabul auf Grund? Ich studiere den Chartplotter und vergewissere mich, dass noch über mehrere Seemeilen nichts als Wasser zwischen uns und den Pitons liegt. Distanzen abzuschätzen, scheint mir in der Dunkelheit besonders schwierig und trügerisch. Ich bin abhängig von unseren Navigationsinstrumenten und frage mich, wie das die ersten Seefahrer wohl gemacht haben. Hatten sie eine bessere Nachtsicht oder waren sie einfach risikobereiter und versenkten ihre Schiffe regelmäßig?
Um 5.15 Uhr sehe ich, wie der Kontrast zwischen Meer und Himmel langsam zunimmt. Gegen halb sechs sehe ich einen Silberstreifen über den Wolken am Horizont und erste rot leuchtende Wolkenbäuche, dann nehmen die Pitons, die zwei majestätisch aufragenden Bergkegel, die sich direkt vor mir aus dem Meer erheben, immer klarere Konturen an. Ich drossle die Geschwindigkeit noch einmal ein wenig und wecke um 6 Uhr Alex, der verschlafen und gähnend an Deck kommt. Er hatte trotz des Wellengangs wunderbar geschlafen.
Langsam segeln wir an den hoch aufragenden Hügeln vorbei, schauen in die Bucht zwischen den Pitons, wo ein paar Schiffe vor Anker liegen, und segeln dann der Lee-Seite von St. Lucia entlang. Wir nehmen einen Reffpunkt aus dem Hauptsegel, um wieder an Fahrt zuzulegen.
St. Lucia sieht grün und wild aus. Ich rieche verbrannten Abfall und wundere mich, wie weit der Geruch übers Meer treibt. Alex macht Kaffee und ich streiche mir Ovomaltine-Aufstrich auf ein Brot.
Dann entdeckt Alex einen kleinen, fliegenden Fisch, der in der Nacht aufs Vordeck gesprungen war und jetzt tot daliegt.
Nach dem Frühstück übergebe ich das Steuer an Alex und versuche mich in unserer Kabine schlafen zu legen. Doch die Schläge sind zu hart, Mabul kracht auf die Wellen und ich falle beinahe aus dem Bett, so dass ich mich in die hintere Kabine lege, wo es etwas ruhiger ist und ich ein paar Stunden vor mich hindöse.
Am frühen Mittag, als die Sonne schon hochsteht, kehre ich an Deck zurück. Die See ist rau und die Wellen glänzen mit kleinen Schaumkronen. Alex zeigt auf die großen, weißen Vögel mit ihren violetten Schnäbeln, die uns seit einigen Stunden begleiten. Sie lassen sich im Wind treiben, um sich dann im Sturzflug in die Fluten zu stürzen, wo sie einen Fisch zu ergattern versuchen. Wieso sie uns wohl begleiten? Bloße Spielfreude oder werden wir von Fischen begleitet, die wir nicht sehen? Ab und zu schießt ein Fisch aus dem Wasser, fliegt oft mehrere Meter über die Wasseroberfläche und taucht dann wieder ab. Gegen Mittag versuche ich mir die Spaghetti aufzuwärmen, die wir vorgekocht hatten. In der Kabine ist es stickig und heiß und der Kochherd schwingt wild am Gimbal hin und her. Als ich die Spaghetti aus dem Kühlschrank holen, rutschen sie einmal quer durch die Küche, bevor ich sie wieder einfangen und in die Pfanne werfen kann. Ich denke an lange Passagen, eine Atlantik- oder Pazifiküberquerung. Wochenlang auf dem offenen Meer, keine Stille, keine Ruhe, sondern ständiges Geschaukel. Gewöhnt man sich daran? Resigniert man irgendwann? Funktioniert man – gezeichnet von Müdigkeit – bald mehr wie eine Maschine, als wie ein Mensch?
Um nicht ganz im Windschatten von St. Lucia zu segeln, ist Alex weiter abgefallen, um etwas Wind zu erwischen. Unseren Ankerplatz St. Anne in Martinique erreichen wir so nicht mehr in einem geraden Schlag. Nach dem Mittag sehen wir Martinique und schon beim Näherkommen merken wir, dass diese Insel anders ist. Sie fühlt sich bereits anders an, riecht anders, erinnert an Zivilisation, an Europa mit ihren Brücken und Straßen und Reihenhäuser, die wir selbst vom Meer aus sehen können. Nach Monaten auf karibischen Reggae-Inseln mutet diese Rückkehr in die Zivilisation befremdlich an, auch wenn wir uns auf ein frisches Baguette und guten Käse freuen. Aber alles wirkt so aufgeräumt, besiedelt, organisiert und damit auch etwas weniger lebendig.
Um nach St. Anne zu gelangen, kreuzen wir gegen den Wind auf und erreichen schließlich den Ankerplatz nach 22 Stunden Segeln müde und erschöpft und doch beflügelt von dieser magischen Nacht. Wir ankern zwischen vielen Booten, fahren mit dem Dinghy nach St. Anne, um ein Baguette und etwas Käse zu kaufen. Um 20 Uhr fallen wir in einen tiefen Schlaf.
Fotos der Pitos…super. Vor den Pitons haben wir damals eine Nacht geankert mit Bugleine an einer Palme und Heckleine am Anker. Geht heute wohl nicht mehr.