Nur wenige Seemeilen trennen Carriacou von Union Island, irgendwo dazwischen, mitten im Meer, liegt die Landesgrenze von Grenada und St. Vincent und den Grenadinen. Am frühen Morgen des 9. Novembers setzen wir die Segel und segeln auf Halbwindkurs direkt nach Union.
In der Bucht vor Clifton umrunden wir das „Kreisverkehr“ Riff und ankern an einer seichten Stelle kurz vor einer kleinen Insel, auf der wir die Umrisse eines Mannes sehen können. Es ist erstaunlich, wie das Unterwasser-Riff die Dünung des Atlantik abhält und wie ruhig wir liegen. Der kleine Hafen liegt nur eine kurze Dinghy-Fahrt entfernt. An der Mole nehmen die lokalen Fischer ihren nächtlichen Fang aus: Red Snapper, Thunfisch und Langusten. Die ganze Nacht seien sie auf dem Meer gewesen und hätten mit einer Leine mit hundert Hacken, an denen ebenso viele Sardinen hingen, gefischt, sagt Adrian, ein junger Fischer. Die Langusten krabbeln ungelenk der Hafenmauer entlang und versuchen zu entfliehen, werden jedoch immer wieder von den Fischern zurückgebracht. Ein Entkommen ist unmöglich.
Nachdem wir die Einreiseformalitäten erledigt haben, was schnell und unkompliziert geht, erkunden wir das kleine Städtchen mit seinen bunten Häusern. Clifton ist sauber, aufgeräumt und wirkt, als sei es bereit Touristen zu empfangen. Die „Tipsy Turtle“ Bar ist noch menschenleer und im „Lobster“ Restaurant werden eben die letzten Teller des Mittagessens – Hühnchen mit Kochbananen und schwarzen Bohnen – abgeräumt. In einem kleinen Laden, sind die Lebensmittel auf Tischen und Regalen aufgestellt wie Schmuckstücke in einer Boutique. Wir fragen uns, ob hier die Kreuzfahrtschiffe anlegen, jetzt da die Saison beginnt, oder ob sich das Städtchen für Cruiser wie uns herausgeputzt hat.
Im Park an der Mole, steht eine Informationstafel. Sie erinnert an die afrikanischen Sklaven, die auf Union Island während der Zeit der Sklaverei umgekommen sind. Ausdrücklich wird an die 53 Sklaven erinnert, die während der zehn Monate von September 1777 bis Juli 1778 aufgrund der „harsh living conditions and cruel slave drivers of that time“ gestorben sind . Damals wurde die Baumwollproduktion um 120 Prozent erhöht und viele Bauten und Infrastrukturprojekte wurden auf der Insel in Angriff genommen. Die Rückseite der Infotafel ist eine Gedenktafel für Hugh Mulzac (1886-1971). Kapitän Hugh N. Mulzac war in Union Island zur Welt gekommen und wurde wie viele Männer hier zum Seemann ausgebildet. Während dem Ersten Weltkrieg diente er als Schiffsoffizier auf einem englischen Kriegsschiff, danach ging er zur US Marine. Doch aufgrund seiner dunklen Hautfarbe habe er in den USA zwanzig Jahre warten müssen, bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, um seinen Traum zu erfüllen und Kapitän eines amerikanischen Schiffes zu werden. Hugh Mulzac, so die Infotafel, wurde der erste schwarze Kapitän auf einem Liberty Schiff der US Merchant Marine. Doch kaum war der Krieg vorbei, entschied die Hautfarbe wieder über das Schicksal von Millionen. Mulzac habe bis 1960, als er 74 geworden sei, warten müssen, um die Position des „night mate“ auf einem US-amerikanischen Schiffs zu erlangen.
Überall in der Karibik, egal auf welcher Insel, begegnen wir den Überbleibseln der Kolonial- und Rassenpolitik. Es ist schockierend, wie bereitwillig die Engländer und Franzosen, hier den Tod von Zehntausenden in Kauf genommen haben, nur um die eigene Gier nach Rohstoffen, nach Baumwolle, Gewürzen und Zuckerrohr zu befriedigen. Und auch wenn auf den karibischen Inseln heute Hautfarbe keine Rolle mehr zu spielen scheint, in anderen Ländern dieser Welt, bestimmt sie aufgrund von Diskriminierung und Vorurteilen noch heute das Leben vieler.
Nach dem Spaziergang durchs Städtchen kehren wir zurück zu Mabul. Adrian, der Fischer, fährt vorbei und ich frage ihn, wer auf der winzigen Insel wohnt, die sich wenige Meter vor unserem Schiffsbug befindet. „Der Verrückte“, sagt Adrian, und bietet an, mich zur Insel zu begleiten. So hüpfe ich ins Dinghy und wir fahren zur kleinen Insel. Der „Verrückte“ heißt Russell Douglas, hat große, aufgedunsene Hände und sagt: „Hallo, wärt ihr doch am Morgen gekommen, da hätte ich für euch Zeit gehabt, jetzt bin ich sehr beschäftigt. Ich koche.“ Über einem offenen, qualmenden Feuer in der Mitte der Insel steht ein rußiger Kessel, in dem Russell eben sein Mittagessen zubereitet. Er führt mich einmal um die Insel, was weniger als eine Minute dauert. Auf der Rückseite der Insel hat er Muscheln und Schneckenhäuser, die er säuberlich ausgewaschen und gereinigt hat, auf einem alten Boot aufgeschichtet und nach Größe und Art angeordnet.
Russell watet in das seichte Wasser hinter der Insel und nimmt weitere Muscheln aus dem Meer, dann zeigt er auf den Wall von toten Korallen und Muscheln, die seine Insel vor den anrollenden Wellen schützt und sagt: „All das liegt hier seit dem letzten großen Zyklon. Hat es alles angeschwemmt.“ Russell ist seit zwanzig Jahren Herr dieser winzigen Insel. Früher sei sie voller Kakteen gewesen, dann habe er Bäume zu pflanzen und sich um die Insel zu kümmern begonnen. Kakteen gibt es immer noch einige, aber auch Bäume, Sträucher, ein unbenutztes Klo und einen Verschlag aus Holz und Plastik neben Russels offenem Feuer. Der große, alte Mann hebt ein paar saubere Muscheln aus dem Meer und watet dann zurück auf seine Insel. Kochen müsse er nun, sagt er und dreht sich weg. Erst als wir ablegen, hebt er nochmals den Kopf und winkt zum Abschied. Er mag verrückt sein, denke ich, aber die Hingabe, mit der er seine Muscheln und Schneckenhäuser säubert, pflegt und bewacht, ist beeindruckend.
Über der Bucht, deren Wasser bei Sonnenschein klar und türkisfarben leuchtet, brauen sich am frühen Nachmittag dunkle Wolken zusammen. Doch am späten Nachmittag reißt der Himmel wieder auf und ein paar Sonnenstrahlen scheinen auf eine weitere kleine, vorgelagerte Insel. Das ist die Barinsel oder „Happy Island“, wie sie hier genannt wird. Auf ihr gibt es nichts mehr als eine Bar, nicht etwa eine simple Strandbar aus Brettern, sondern die Insel gleicht einer Art Fort mit weiß getünchten Betonwänden, ein paar Palmen und einem leuchtend weißen, runden Gebäude, das an der Vorderseite eine breite Öffnung hat, durch die man auf die vielen Alkoholflaschen und den Mixer, in dem Barbesitzer Jaunti seine Drinks mixt, sehen kann.
Jaunti hat seine Dreadlocks hoch auf seinem Kopf aufgetürmt. Früher sei er Geschäftsmann gewesen, doch dann, vor zwanzig Jahren, als der erste „Pirates of the Caribbean“ Film hier in St. Vincent gedreht wurde, habe er an einem landesweiten Dorfwettbewerb teilgenommen. Wer hat das schönste Dorf und beste Dorfprojekt?, lautete die simple Fragestellung und Jaunti begann mit den Jugendlichen seines Dorfes Bäume zu pflanzen und Mauern zu bemalen – und gewann. Doch das war nicht das Ende. Nach dem Sieg begannen sie mit den großen Muscheln der Meeresschnecken eine Insel in der Bucht aufzuschütten. Was zuerst nur eine kleine Muschelansammlung war, wuchs bald zu einer Insel, auf der sie eine Bar mit einem Blätterdach errichten konnten. Nun, zwanzig Jahre später, würde niemand erraten, dass diese große, mit Mauern umgebene Insel und ihren Räumen, geschmückt mit Teppichen, Blumen und Bildern, einst als kleiner Muschelhaufen begonnen hatte. Die Painkiller, die Jaunti hier aus frischen Früchten und geriebener Muskatnuss zubereitet, sind die besten, die wir je getrunken haben.
Nach einer ruhigen, erholsamen Nacht setzten wir am nächsten Morgen die Segel und machen uns auf in Richtung Bequia. Ich werfe die Angelschnur aus, wechsle vorher aber noch den Köder. Mit dem grünen Tintenfisch-Köder hatte ich bislang nur Seegras gefangen, jetzt versuche ich es mit dem rot-silbern glitzernden Tauchköder. Mabul segelt ruhig, noch sind die Winde konstant bei ungefähr fünfzehn Knoten. Auf einmal zeigt Alex übers Heck auf’s Meer. „Du, ich glaube, du hast einen Fisch am Hacken.“ Tatsächlich! Immer wieder wird ein langer, silberner Fischkörper an der Wasseroberfläche sichtbar. Ein Fisch!! Nach unzähligen misslungenen Anglerversuchen der erste Fisch seit wir auf Mabul sind. Wir legen einen Lappen bereit, damit wir ihn dem Fisch über die Augen legen können, ein Tipp von Seglerfreunden, die sagten, dass sich die Fische dann sofort beruhigen und aufhören zu zappeln. Auch ein Eimer und ein Messer stehen bereit und ich beginne langsam die Angelschnur aufzuwickeln.
Der Fisch wehrt sich kaum. Wie lange er wohl schon an der Leine hängt? Dann sehen wir ihn: ein großer, silbern glänzender Barracuda. Noch sind wir im Süden der Karibik, wo die Barracudas – so versicherten uns zumindest Fischer und Segler gleichermaßen – noch nicht die Gefahr von Ciguatera und damit einer möglichen Fischvergiftung in sich tragen. Wir ziehen den Fisch an Deck, Alex deckt ihm die Augen ab und ich steche ihm zuerst mit dem Messer ins Gehirn, anscheinend die schnellste Art ihn zu töten. Dann schneide ich ihm die Kiemen auf und durchtrenne die Hauptarterie zwischen seinen Kiemen. Das Blut läuft dickflüssig übers Teakdeck, so dass ich den Fisch schnell Kopf voran in einen Eimer stecke. Was nun? Der Fisch ist groß, fast einen Meter lang, er passt weder in unseren kleinen Kühlschrank noch auf den Grill. Nachdem er ausgeblutet ist, hole ich die Innereien heraus, dann bringe ich ihn unter Deck und zerlege ihn in kleinere Filetstücke. Aus einem Teil des weißen Fischfleischs bereite ich mit Koriander, Petersilie, Zwiebeln und Chili Ceviche zu, den Rest werden ich später auf den Grill legen. Noch ahne ich nicht, dass der Barracuda die nächsten drei Tage meinen Menüplan bestimmen wird. Alex isst keinen Fisch und wir haben keinen Tiefkühler….
Kaum habe ich den Fisch im Kühlschrank verstaut, nähert sich uns eine schwarze Wolkenfront und heftige Winde reißen an den Segeln. Während Alex Mabul auf Kurs hält, hake ich mich an der Sicherheitsleine ein, um das Großsegel am Mast ins zweite Reff zu setzen. Heftige Böen schießen ins Segel und kurz darauf beginnt der Regen auf uns niederzuprasseln. Vor einem Monat hätte uns ein solcher Sturm noch aus der Fassung gebracht, doch langsam sind wir ein eingespieltes Team, wissen was zu tun ist und wer welche Aufgabe übernimmt. Alex ist dabei der bessere und kräftigere Steuermann, doch bald wird es auch ihm zu nass und wir lassen den Autopiloten seine Arbeit machen und sitzen den Sturm im Niedergang aus. Eine halbe Stunde später ist der Regen weitergezogen und wir sehen bereits vor uns die Umrisse der Insel Bequia, unserem Tagesziel.
Wir steuern die Admiralty Bucht, eine große, langgezogene und gut geschützte Bucht auf der Westseite der Insel, an, doch bevor wir die südliche Klippe umschiffen, um in die Bucht einzulaufen, sehen wir ein Segelschiff, das anscheinend verlassen daliegt, der Zipfel des Großsegels im Winde flatternd, aufgelaufen auf dem Riff. Erst Tage später erfahren wir von den Inselbewohnern, dass der Kapitän aus Trinidad hochgesegelt war und kurz vor Bequia eingeschlafen sein muss. Sein Schiff steuerte geradewegs auf die Klippen zu….
Nach fünfeinhalb Stunden und 32 Seemeilen erreichen wir Bequia und werfen vor dem Princess Margaret Strand in glasklarem Wasser Anker. Hinter dem Strand erhebt sich dichter Wald und an den Hängen leuchten kleinere und größere Häuser in pinker, gelber und grüner Farbe.
Bequia ist bekannt für seine lange Tradition des Schiffbaus und den Walfang. Noch heute erlaubt die International Whaling Commission den Bewohnern von Bequia, vier Buckelwale pro Jahr zu fangen. In den kommenden Tagen wollen wir mehr über die Hintergründe dieser alten Traditionen erfahren….