Gegen den Strom

Geht ein Jahr zu Ende, feiern wir das mit Feuerwerk und Champagner. Geht eine Segelsaison zu Ende, ist das ebenfalls Grund zum Feiern. Schließlich schwimmt unser Boot noch und weder hat Alex mich noch ich ihn über Bord geworfen, auch wenn wir manchmal kurz davorstanden. Wir wollen die restliche Hurricane Saison im Rio Dulce verbringen, und so segeln wir von Mexiko nach Guatemala. Dabei ist uns in den letzten Tagen unserer ersten Segelsaison jedoch nicht zum Feiern zu mute. Schuld daran ist eine Sandbank, ein winziges Lebewesen namens Cyclospora cayetan und unsere Drohne. In anderen Worten: Unsere Saison geht mit einer Krise in verschiedenen Akten zu Ende. Um es vorwegzunehmen: Wir haben überlebt, Mabul auch, nur die Drohne, die ist tot.

Die letzte Etappe beginnt harmlos, sogar erfreulich: Das Ausklarieren dauert nämlich nicht acht Tage wie das Einklarieren, sondern nur einen halben. Wir legen in dieser Zeit zwar beachtliche Kilometer zu Fuß zwischen der Immigrationsbehörde, der Capitaneria, der Bank und den Kopiershops zurück, aber niemand sagt uns, wir sollen am nächsten Tag wieder kommen, sondern wir haben die nötigen Stempel noch am selben Tag im Pass und auf den Bootspapieren. Danach warten wir zwei Tage auf den richtigen Wind, oder besser gesagt, auf Wind überhaupt.

Die letzte Etappe in unserer ersten Segelsaison beginnt harmlos

Als wir endlich an einem Tag Mitte Juli den Anker lichten, haben wir zuerst nur ein Ziel: Möglichst schnell über den Golfstrom Richtung Küste zu segeln, damit wir uns danach im Strömungsschatten der Küste langsam nach Süden vorarbeiten können. Der Golfstrom schiebt uns mit eineinhalb Knoten Richtung Norden, ist dann jedoch eineinhalb Meilen vor der Küste nicht mehr spürbar. Durch den Feldstecher sehen wir die Mayaruinen von Tulum. Eigentlich hatten wir die romantische Vorstellung, zwischen Riff und Ruinen zu ankern und beim ersten Morgenlicht als einzige Besucher die Ruinen zu besteigen. Davon raten uns andere Segler ab und zwar aus zwei Gründen: 1) ist die Lücke im Riff so klein, dass die Gefahr am Riff hängen zu bleiben grösser ist 2) ist man bei den Ruinen in Tulum nie allein. So vergessen wir die Romantik, winken Tulum einmal kurz zu und lassen die Ruinen zu Achtern hintern uns.

Am Nachmittag werfe ich den Köder aus. Ein Thunfisch oder Mahi Mahi wäre eine willkommene, kulinarische Abwechslung in unserem Speiseplan von Pasta und Linseneintopf der kommenden Tage, auch wenn ich den Fisch wie immer allein essen müsste. Alex hält auch nach einem Jahr auf dem Meer und obwohl er immer dünner wird, an seiner vegetarischen Diät fest. Es dauert nicht lange und ein Fisch zieht die Schnur mit solcher Kraft von der Rolle, dass diese bricht. Das muss ein Thunfisch sein, so kraftvoll wie er kämpft! Mit Müh und Not ziehe ich den Fisch heran und sehe – oh nein! – die schwarzen Streifen auf seinem silbernen Körper. Ein Barracuda! Schon wieder. Das Problem mit den Barracudas ist nicht nur, dass man sie ab einem bestimmen Breitengrad nicht mehr essen sollte, wenn man sich keine Fischvergiftung einfangen will, sondern dass sie ein Maul voller scharfer Zähne haben.

Doch wenn ich den Fisch nicht esse, dann will ich ihn auch nicht töten, sondern ihm den Hacken möglichst sanft aus dem Maul holen und ihn dann wieder ins Meer zurückwerfen. Diesmal, wie so oft bei Barracudas, die besonders gierig auf die Köder zu beißen scheinen, stellt sich die Hackenentfernungsaktion wieder als eine größere Operation heraus, da sich der Hacken im Unterkiefer des Fischs verfangen hat. Als ich den Barracuda endlich zurück ins Meer werfe, treibt er ein paar Sekunden an der Oberfläche, dann taucht er ab und verschwindet. Er wird überleben, aber die Lust am Angeln ist mir vergangen und ich packe Rute und Köder weg, die Rolle ist ja sowieso gebrochen. Möge mir Poseidon in der nächsten Segelsaison eine stabilere Rolle und endlich mal Fische an die Angel schicken, die ich auch essen kann!

Unser Ziel: Guatemala

Während wir, von der Nachmittagshitze erschlagen, an Deck dahindösen, während Mabul sich im Schritttempo vorwärtsbewegt, sehen wir auf einmal die grauen Rückenflossen von Delfinen, die neben Mabul aus dem Wasser tauchen. Es sind nur drei Tiere, zwei erwachsene und ein Jungtier. Sie schwimmen direkt zum Bug, wo sie vor und unter dem Boot hindurchtauchen.

Es ist erstaunlich, wie uns manche Begegnungen, egal wie oft wir sie machen, immer wieder von Neuem in Staunen versetzen und mit Freude erfüllen können. Ein lächelndes Kind, das uns selbst ein Lächeln entlockt. Die Sonne, die als roter Feuerball im Blau des Meeres verschwindet. Oder graue Delfine, die scheinbar aus dem Nichts neben dem Boot auftauchen. Es ist, als ob ein Hauch des Zaubers, ein Funken Spielfreude in diesen Momenten auf uns übersprängen. Wir vergessen alles, denken nicht an die Vergangenheit, nicht an die Zukunft, wünschen uns auch nicht mehr oder weniger Wind, sondern beobachten einzig die Delfine, staunen, mit welcher Leichtigkeit sie durch das Meer und das Leben schwimmen, sind im Fluss, in der Weite des Ozeans.

Es sind dies die größten Geschenke, die wir in diesem Jahr auf dem Meer bekommen haben: Begegnungen mit der Natur und ihren Bewohnern. Momente, in denen die Zeit stillsteht und das Hier und Jetzt beginnt. Innehalten. Beobachten. Staunen. Lernen. Die Natur und ihre Lebewesen waren uns dabei großartige Lehrmeister, die auch bei uns von der Zivilisation Verschüttetes wieder freigelegt haben. Den Spieltrieb und Sinn für die Gemeinschaft zum Beispiel, den wir bei den Delfinen so oft beobachten konnten. Das sich im Wind Treibenlassen, wie uns das die Pelikane vorlebten. Oder ein Nickerchen machen, wenn wir müde sind, wie das die Ammenhaie im behaglichen Sand tun.

Drei Delfine begleiten uns

Natürlich dreht sich bei den Tieren, wenn sie nicht schlafen oder spielen, vieles ums Fressen. Andere fressen oder aufpassen, nicht gefressen zu werden. Aber keines der Tiere scheint in einer verkopften und geschäftigen Realität zu leben, in der die Terminkalender so voll sind, dass man ein gemeinsames Abendessen über Monate im Voraus planen muss. Keines scheint sich fünf Tage lang abzurackern, um sich dann am Wochenende, erledigt vom Stress der Woche, zwei Tage lang aufs Sofa zu fläzen, nur um wieder fit zu sein für eine neue, Stress beladene Woche. Wieso tun wir das? Um mehr Geld zu verdienen, damit wir mehr Zeugs kaufen können, das wir eigentlich nicht brauchen? Um andere zu beeindrucken? Weil wir uns selbst nicht mehr spüren? Täten wir nicht besser daran, von den Tieren zu lernen: Moment für Moment, Tag für Tag eine Balance herzustellen, wirklich zu fühlen, was wir wirklich brauchen, um glücklich zu sein.

Mit jedem Tag auf dem Meer schien sich in unserem Leben mehr Balance einzustellen. Wir begannen uns wieder auf unsere Intuition, unsere Körperempfindungen zu verlassen, statt mit dem Kopf zu bestimmen, was unsere Körper brauchten. Wir begannen Land zu riechen, bevor wir es sahen. Nutzten unsere Haut, um zu fühlen, von wo der Wind kam. Spürten den erhöhten Puls, wenn ein Missgeschick geschah, aber merkten auch, wenn das Missgeschick vorüber war und wir uns wieder entspannen konnten. Wir stritten, lernten aber auch schnell loszulassen und uns zu versöhnen. Wir waren fast nie krank.

Unser erstes Jahr auf dem Meer, war kein Jahr, in dem es immer rosig zu und her ging und wir jeden Abend Gin Tonic trinkend den Sonnenuntergang betrachteten. Wir litten unter der brennenden Sonne. Wir – zumindest ich – wünschten uns mehr als einmal, das Boot mit all seinen Problemen zu versenken. Wir genossen die Momente der Stille und des kühlenden Meeres. Wir erlebten die ganze Fülle von Leben und dieses Leben wurde simpler, die Grundbedürfnisse rückten in den Vordergrund. Vielleicht wurden wir wieder etwas mehr zum Tier. Schlafen, Fressen, Spielen, Fortpflanzen.

Unser Leben war auch etwas langweiliger als an Land. Doch Langeweile ist nichts Schlechtes, Einfachheit auch nicht und die Natur hat sich als unsere beste Lehrerin auf dem Weg zum Glück erwiesen. Und noch etwas: Segeln ist keine Angelegenheit von einsamen Männern, die als Abenteurer die Welt entdecken, zumindest nicht nur. Auf dem Meer haben wir eine Gemeinschaft von gleichgesinnten, freiheitsliebenden Menschen gefunden, von denen einige sogar bereit waren, uns mit ihrem Dinghy über viele Meilen in die sichere Bucht zu schleppen, als unser Motor nicht mehr funktionierte. Solidarität und Hilfsbereitschaft wird in dieser Gemeinschaft über alle politischen, ethnischen und kulturellen Grenzen hinweg gelebt. Ich hoffe, dass wir uns an all das erinnern, wenn wir je wieder an Land leben werden.

Abendstimmung in der Bahia de Ascension, Mexiko

Daran denke ich, als wir in der Abenddämmerung den Leuchtturm der Bahia de Ascension in der Ferne sehen. 12 Stunden sind vergangen, seit wir Cozumel verlassen haben. Jetzt wollen wir hier die Nacht verbringen. Der Tiefenmesser zeigt nur noch zwei bis drei Meter Wasser unter dem Kiel an. Die Farbe des Wassers hat sich von kristallklarem Blau zu sandigem Braun gewandelt. Da geschieht etwas Unerwartetes: Neben dem Bug tauchen drei Delfinflossen auf. Zwei erwachsene Delfine und ein Jungtier schwimmen mit uns in die Bucht. Sind es dieselben, die uns am Nachmittag hallo gesagt haben? Sind sie den ganzen Weg mit uns mitgeschwommen und wir haben sie nicht bemerkt? Wollen sie einfach nur mit uns spielen oder mit uns kommunizieren? So schnell sie aufgetaucht sind und sich uns gezeigt haben, so schnell sind sie wieder weg. Wir nehmen es als gutes Omen in diesen letzten Tagen der ersten Segelsaison auf dem Meer. Wir werfen Anker und fallen in einen tiefen Schlaf unter dem schwarz verhangenen Himmel.

Bevor wir zum letzten dreitägigen Schlag ansetzen, gönnen wir uns einen Tag Pause. Alex prüft die diversen Bordsysteme, ich bereite das Essen für die bevorstehenden Tage vor, koche Pasta und eine große Portion Linseneintopf und mache Hummus. Am Nachmittag kommt ein kleiner Baby Hai beim Boot vorbei, sonst sind wir allein. Wir legen uns früh schlafen, um am kommenden Tag ausgeruht und fit zu sein um von unserem letzten Ankerplatz in Mexiko nach Guatemala zu segeln.

Ruhetag vor dem letzten großen Schlag

Die Überfahrt, auf der wir Belize und das Barrier Riff zu Steuerbord umschiffen, ist mühsam. Der Wind ist flau und so werden die 300 Seemeilen, die wir zurücklegen müssen, zur Qual. Sollen wir den Motor anwerfen oder nicht? ist die ständige Frage. Die letzten 24 Stunden müssen wir durchgehend unter Motor zurücklegen. Unwohl fühle ich mich jedoch bereits ab Tag zwei. Mir ist ständig schlecht und dass, obwohl wir so gut wie keine Welle haben. Am dritten Tag nach meiner letzten Nachtschicht tritt mein Körper in Generalstreik und wirft dann alles aus, was ich kurz zuvor eingenommen habe. Die Fische freuen sich, ich weniger.

Immer wieder verlässt uns der Wind auf unserem letzten Schlag

Mein Radius beschränkt sich für die kommenden Tage auf Bett, Klo und Reling. Was ich damals noch nicht weiß und erst Wochen später nach einer Stuhlprobe und einem Arztbesuch erfahre: Nicht das Meer, sondern ein Keim namens Cyclospora cayetan versetzt meinen Magen-Darm-Trakt nachhaltig in Aufregung – und bald auch Alex‘. Der Keim muss an einem Salatblatt oder einem Gemüse geklebt haben. Durchfall mit Übelkeit sind die Folge. Zwei Wochen lang gleicht mein Krankheitsverlauf einer sich wild auf und ab bewegenden Achterbahn, dann suche ich einen Arzt auf. Zu diesem Zeitpunkt bin ich bereits in der Schweiz und der Arzt verschreibt mir Bactrim für zehn Tage eine Tablette morgens und abends. Es geht ruckzuck besser. Nebst Käse und Salami, nehme ich mir vor, mehrere Packungen Bactrim zurück aufs Boot zu bringen. Der nächste Käfer wartet bestimmt schon irgendwo auf uns.

Einsam liegt Mabul vor der guatemaltekischen Küste…

Endlich haben wir die 300 Seemeilen geschafft. Von Livingston trennen uns nur noch wenige Meilen und eine Sandbank, doch die ist tückisch. Wir haben deshalb und weil wir auf den Vollmond warten müssen, zwei Puffertage, in denen wir uns erholen können. Diese verbringen wir in einer weiten Bucht vor einem kleinen Dorf, in dem am ersten Abend ein Gottesdienst mit arg verstimmtem, aber laut verstärktem Klavier stattfindet. Als er endlich vorbei ist, breitet sich eine Stille aus, die nur noch vom vereinzelten Zirpen der Grillen unterbrochen wird. Die zwei kommenden Tage verbringe ich im Dämmerzustand, einzig darauf bedacht, kleine Schlucke Bouillon zu mir zu nehmen und zu behalten. An Deck weht eine leichte Brise, aber unter Deck ist es stickig heiß. An Schwimmen ist nicht zu denken. Das Wasser ist braun-schwarz und voller Geäst und Dreck. Der Dschungel am Ufer ist dicht und undurchdringbar und scheint seine Zweige und Blätter direkt in die Bucht abzuwerfen.

…wo wir warten, bis das Wasser über der Sandbank steigt.

Dann ist es soweit. Es ist der 31. Juli 2023, Vollmond. Um Punkt 6:30 Uhr müssen wir vor der Sandbank, die zwischen uns und Livingston liegt, sein. Nur dann, bei der höchsten Flut, haben wir eine kleine Chance, über die Sandbank zu rutschen, ohne mit dem Kiel im Sand stecken zu bleiben. Von unserem Ankerplatz bis zur Sandbank dauert es zwei Stunden, heißt, wir stellen den Wecker auf 4:15 Uhr.

Bei strömendem Regen ziehen wir den Anker hoch und werfen die Maschine an. In der Ferne grollt der Donner und Blitze erhellen den Nachthimmel. Später erzählen uns unsere Freunde, dass das Gewitter direkt über dem Rio Dulce getobt und der Blitz in einen Katamaran eingeschlagen hat. Es ist derselbe Katamaran, der in der Marina Puerto Aventuras hinter uns gelegen hat. Nach dem Blitzeinschlag ist die gesamte Bordelektronik frittiert.

Langsam tuckern wir über die Bucht, der Sandbank und dem Morgen entgegen. Genau um 6:30 Uhr beginnt die Zahl auf dem Tiefenmesser zu sinken. Wir sind an der Sandbank angekommen! Alex drosselt auf langsames Schritttempo, so dass wir keinen größeren Schaden anrichten, sollten wir doch den Kiel durch den Sand ziehen. Niemand weiß genau, auf welcher Tiefe sich die Sandbank befindet und wohin sie sich genau verschiebt. Unser Tiefgang beträgt 1,68 Meter und das könnte reichen, um nun bei Flut unbeschadet nach Livingston zu kommen. Unsere Freunde Riki und Martin haben einen bedeutend tieferen Kiel und haben es deshalb gar nicht erst versucht. Sie haben direkt Hector angerufen, Hector der Fischer, der Segler gegen ein Entgelt über die Sandbank schleppt. Dafür bindet er ein Seil an den Mast, legt das Boot 45 Grad quer und schleppt es dann mit seinem Fischerkahn über die Sandbank. Wir hoffen, dass das uns und Mabul erspart bleibt, doch die Nummer von Hector liegt bereit für den Notfall.

Um Punkt 6:30 Uhr, beim höchsten Wasserstand, überqueren wir die Sandbank

Während wir im Schritttempo vorantuckern, immer mit einem Blick auf den Tiefenmesser, der nun nur noch 80 Zentimeter anzeigt, fahren Fischerboote links und rechts an uns vorbei. Sie winken fröhlich und zeigen auf Stellen, die ihrer Meinung nach passierbar sind. Die Anzeige auf dem Tiefenmesser sinkt weiter: 60 Zentimeter, 50, 40, 30, 20, 10 und dann 0. 0. 0. 0. Nichts ruckelt, nichts stockt, immer noch schaukelt Mabul sanft auf den Wellen. Mehrere Minuten lang betrachten wir die Null auf der Anzeige. Dann wechselt die Anzeige von Null auf 10 Zentimeter. Mit jedem Meter, den wir voranrücken, schiebt sich mehr Wasser zwischen unseren Kiel und den sandigen Boden. Dann liegt die Sandbank hinter uns. Wir haben es geschafft!

„In Livingston klauen sie euch die Fender vom Boot“, werden wir gewarnt

Um sieben Uhr früh werfen wir vor dem kleinen, guatemaltekischen Städtchen Livingston den Anker. Fischerboote legen an und ab, Motorräder knattern über das Pier und das Städtchen wartet mit vielen bunten Häusern auf, deren Farbe jedoch überall abblättert. Hier würden sogar die Fender von den Booten gestohlen, sagten uns andere Segler und so bleibt Alex an Deck, während ich Kaffee koche. In Erinnerung an Mexiko und um das Einklarieren möglichst unbürokratische hinter uns zu bringen und Livingston schnell wieder zu verlassen, haben wir Raul, einen Agenten angestellt. Doch der schläft um 7 Uhr noch und fährt erst um 8.30 Uhr in einem Kahn vor, in dem zwei Beamte mit Einreiseformularen sitzen und der von einem alten Rastafari mit Dreadlocks gesteuert wird. Nach einer Stunde und einem kurzen Landgang, den Alex alleine macht, während ich auf das Boot und die Fender aufpasse, ist der Papierkram erledigt und wir sind offiziell in Guatemala einklariert.

Der Rio Dulce ist eingebettet in den Dschungel

Langsam tuckern wir in die Mündung des Rio Dulce, des Süßen Flusses, und fahren flussaufwärts. Unser Ziel liegt etwa vier Stunden von uns entfernt, vier Stunden umgeben von einer spektakulären Landschaft. Das erste mal schnuppern wir Süßwasser, welches uns mit fast zwei Knoten entgegenkommt, und Alex fragt sich ob der Wassermacher hier wohl funktioniert. Der braune Fluss ist eingebettet in tiefgrünen Urwald. Die Bäume strecken ihre Kronen weit in den Himmel und stehen dicht gedrängt an den steilen Ufern. Die Luft ist erfüllt vom Krächzen bunter Vögel und Tuckern einiger weniger Boote. Immer wieder gleitet auch ein Fischer in einem Kanu lautlos an uns vorbei, um dann in Ufernähe sein Netz auszuwerfen. An den Ufern stehen vereinzelt kleine Hütten mit Palmdächern, vor denen Lanchas, so werden die lokalen Boote hier genannt, an Pfählen festgebunden sind. Die ganze Szenerie erinnert mich an den Film «Fitzcarraldo» von Werner Herzog, insbesondere an die Szene als der exzentrische Abenteurer und Opernliebhaber Brian Sweeney Fitgerald versucht sein Schiff über einen bewaldeten Bergrücken zu ziehen, weil der Fluss voller Stromschnellen und deshalb unpassierbar ist. Ich sehe die Ureinwohner noch vor mir, die das Schiff, das sie als göttliche Verheißung zu erkennen glauben, schwitzend und keuchend über den Berg zu schleppen versuchen.

Überquerung des El Golfete auf dem Weg zur Werft

Der Rio Dulce ist zwar lieblich und durchwegs einfach zu passieren, aber der Urwald verströmt diesen Geruch von Abenteuer und Wildnis. Wie weit er sich wohl erstrecken mag? Und wie unser blaues Boot mitten in diesem Grün der Wildnis wohl aus der Luft aussieht? Um es herauszufinden, lässt Alex die Drohne steigen, während ich Mabul weiter den Fluss hoch steure. Ein Drohnenflug vom fahrenden Boot, das machten wir noch nie, doch nach hunderten von Drohnenflügen, wird auch das klappen, denken wir. Winzig klein, wie ein Spielzeug erscheint Mabul im Grün des Dschungels, dessen Ende nicht zu erkennen ist. Auch wenn wir die Drohne längst nicht mehr sehen, sehen wir ihre Perspektive auf dem Display. Wir können uns kaum losreißen von diesen fantastischen Bildern. Dann holt Alex die Drohne zurück, sie schwebt über Mabul, bereits berührt er sie, muss sie nur noch packen, da weicht sie aus, knallt gegen das Bimini und fällt ins Wasser. Vom Rio Dulce verschluckt in wenigen Sekunden. Die Drohne ist tot, am letzten Tag, in der letzten Stunde haben wir sie versenkt….

Der Moment, als unsere Drohne ein Eigenleben entwickelte und den Tod fand

Es ist immer wieder erstaunlich, wie schnell die Stimmung an Bord kippen kann. Eine Leine, die sich losreißt. Ein Segel, dass sich verheddert. Oder eine Drohne, die stirbt. Die Schönheit des Flusses bleibt zwar dieselbe, nur haben wir dafür keinen Blick mehr. Schweigend legen wir die nächsten Stunden durch den Fluss zurück und schweigend überqueren wir den See, hinter dem sich die Marina und unser Dschungelhaus befindet. Erst als uns unser Freund Martin mit der dreijährigen Kira auf ihrem Dinghy entgegenfahren, heitert sich auch die Stimmung bei uns wieder auf. Riki, Martin und ihren Töchter Kira und Naia sind bereits vor zwei Monaten, zu Beginn der Hurrikan Saison, mit ihrem Boot Arancanga im Rio Dulce angekommen und haben bereits ein Dschungelhaus am Fluss bezogen und ihr Boot aus dem Wasser gehoben.

In der kleinen Siedlung am Fluss gibt es vier solcher Häuschen, eines ist noch frei und in das ziehen wir. Martin lotst uns bis zu der kleinen Ansammlung von Dschungelhäuschen, die nun auch für die nächsten drei Monate unser Zuhause sein werden und hilft uns, Mabul am Steg festzumachen. Ein Willkommensbier und die herzliche Umarmung unserer Freunde, die wir seit St. Martin nicht mehr gesehen haben, lassen uns den Verlust der Drohne zwar nicht vergessen, aber ausblenden. Am Ende ist es bloß Blechschaden, wenn auch ein teurer.

Angekommen! Mabul liegt am Steg unserer Dschungelsiedlung

Kaum in Guatemala angekommen, bereite ich mich jedoch bereits auf die Abreise vor. Während Alex sich entschlossen hat, nicht nach Europa zurückzukehren, sondern unzählige Reparatur- und Umbauarbeiten voranzutreiben, bleiben mir noch vier Tage bis zu meinem Abflug in die Schweiz. In diesen Tagen schaffen wir unseren ganzen Proviant vom Boot in das kleine Dschungelhäuschen und merken, dass wir wohl für das kommende Jahr weder Dosen mit Mais, Gurken oder Oliven kaufen müssen. Unser Proviant, den wir so zahlreich auf den französischen Inseln Martinique und Guadeloupe eingekauft hatten, wird uns noch über Monate reichen.

Unser Holzhäuschen hat zwei Zimmer, eine Küche mit einem durchgerosteten Herd, so dass die Flammen in die Höhe schießen, als ob der Herd ein Flammenwerfer wäre, und einige Ritzen, durch die das Regenwasser eindringt, das wir mit Eimern einfangen – das Bootsfeeling bleibt also auch auf dem Land. Das Bett jedoch ist himmlisch und so groß, dass wir uns nicht ständig in die Quere kommen. Das Häuschen hat auch eine offene Veranda, auf der uns am ersten und fast an jedem folgenden Tag Hund Canelo besucht, während der Riesenbär Bastard meist zu faul ist, die Holztreppe hinauszutreten. Jeden Abend stimmen die beiden ein Heulkonzert an und jeden Abend schreit unser Nachbar Tim, der sich als Trump-Verehrer und Qanon-Anhänger entpuppt, ein lautes: «Canelo! Bastard! Shut the fuck up!»

Manchmal springt auch eines der aufgeregten Hühner auf das Geländer unserer Veranda und jeden Tag stolziert der Truthahn, der seine Kopffarbe von Rot auf Blau verändern kann, je nachdem, ob er fressen oder vögeln will, auf dem mit Palmen und Bäumen bewachsenen Abschnitt zwischen Haus und Fluss umher, Schwanzfedern und Kopf in die Höhe gereckt. Bald merken wir, dass wir auch hier an Land Essenreste, wie auf dem Boot, einfach über die Reling bzw. das Geländer werfen können. Nicht die Fische kommen dann angeschwommen, sondern die Hühnerschar rast gackernd herbei, um die Salat- oder Reisreste aufzupicken.

Das Dschungelhaus ist unser Zuhause, solange Mabul in der Werft auf dem Trockenen steht

Die ersten zwei Tage sind wir also mit Aus- und Einräumen beschäftigt. Am dritten Tag fahren wir Mabul zur Ram Marina, der kleinen Werft, die auf der anderen Flussseite liegt. Der Fluss ist unsere einzige Verbindung zwischen Werft und Dschungelhäuschen und so bleibt das Dinghy unser Haupttransportmittel. Mit dem Dinghy fahren wir auch zum Supermarkt oder ins Restaurant. Das Leben spielt sich am Rio Dulce auf dem Wasser ab. Dabei begegnen wir immer wieder den gleichen Leuten: Den Fischern, die von ihren Kanus aus die Netze auswerfen, der alten Guatemaltekin, die auf einem Jetski der 80er Jahre und oft in Begleitung eines Hundes über den Fluss rast und natürlich anderen Cruisern, die mit dem Dinghy in die Werft oder die nächste Bar unterwegs sind.

Mabul wird in der Ram Marina aus dem Wasser gehoben

Dann, am dritten Tag, wird Mabul aus dem Wasser gehoben. Es gibt zwei Werften hier. In der einen, in Nanajuana, machen Riki und Martin ihre Bootsarbeiten und die andere ist die Ram Marina. Phil und Hatty, die Vorbesitzer unseres Schiffs, haben Mabul als sie noch Pepper of Nihau hieß, in der Ram Marina generalüberholt und waren zufrieden mit den Arbeiten. Damals stand das Schiff eineinhalb Jahre auf dem Trockenen. Wir planen ebenfalls eine Reihe von Arbeiten, hoffen jedoch ab November wieder im Wasser zu sein.

Wir fahren Mabul langsam zur Rampe der Ram Marina, über der bereits der Bootslift steht. Nach wenigen Minuten liegt Mabul in den großen Schlingen des Lifts. Mit viel Krächzen hebt der Lift Mabul aus dem Wasser, fährt sie an Land und stellt sie ab, gestützt von Holzblöcken und Stützen.

Nun können wir nur noch über eine Holzleiter am Heck an Deck steigen.

Bereit für den großen Refit!

Wir besprechen die Arbeiten, die an Mabul gemacht werden müssen: Das Teakdeck, das nur noch aus einer dünnen Holzschicht, die überall einreißt, besteht, muss weg. Im Inneren müssen diverse Schreinerarbeiten gemacht werden. Wir brauchen einen neuen Segelsack und Sonnenschutz für das Vorsegel, zudem muss das ganze Heck neu lackiert werden. Der Kiel, bei dem sich bereits Schichten lösen, muss sandgestrahlt und mit neuem Coppercoat bestrichen werden. Auch am Antriebsstrang und Dieselgenerator müssen einige Arbeiten erledigt werden. Als erstes aber nimmt Alex den Propeller ab. Wir tragen ihn zurück zum Dschungelhäuschen, reinigen und verpacken ihn. Seit wir das Boot gekauft haben, machte der Propeller eigenartige Geräusche, nun soll ich ihn im Gepäck mit in die Schweiz nehmen und von dort an den Hersteller in England schicken, wo er auf Präzisionsmaschinen überarbeitet wird.

Nach vier Tagen ist das Dschungelhaus eingerichtet, der Propeller im Gepäck, Mabul an Land. Das war’s! Zumindest für mich. Ich reise nun fünf Wochen in die Schweiz. Fünf Wochen, in denen ich auf Berge steigen, Waldluft atmen, mit Freunden und der Familie lachen will. Ich habe sie alle vermisst, bin vielleicht doch mehr ein Landwesen, als eine Wasserratte.

Glücklich und verwildert nach einem Jahr auf dem Meer

Alex bleibt bei Mabul, das ist tröstlich. Wenn ich zurück bin, wird es immer noch genügend Arbeiten am Boot geben, doch unserem nächsten Abenteuer sind wir dann bereits näher: im kommenden Jahr wollen wir den Pazifik überqueren. Eigentlich verrückt.

Zusammenfassung

Zurückgelegte Distanz: 308 sm
Fahrtzeit: 2 Tage 13 Stunden
Durchschnittsgeschwindigkeit: 4,6 kn
Motorstunden: 6 Stunden

Weitere Fotos aus Guatemala findest du in diesen Galerien:

Refit Teil I
Refit Teil II
Flussaufwärts nach Rio Dulce

Verwandte Boatcast Episoden:

Teile diesen Post mit deinen Freunden!
Hat es dir gefallen? Nimm dir einen Moment und unterstütze uns auf Patreon!
Become a patron at Patreon!
Avatar-Foto

Veröffentlicht von Karin

Schreibe einen Kommentar